Specialist for Orthopaedic & Trauma Surgery, Specialised Trauma Surgeon, Specialised Orthopaedic Surgeon
Wie wird die Kniescheibe stabil gehalten?
In Beugegraden über 30° ist die Kniescheibe überwiegend durch eine tiefe knöcherne Gleitrinne des Kniescheibengleitlagers geführt. In den strecknahen Positionen, bis 30° Beugung, wird die Kniescheibe sowohl knöchern von der Gleitlagerrinne, als auch weichteilig von dem Kniescheiben-stabilisierenden Band, dem sog. medialen patellofemoralen Ligament (MPFL – auf Deutsch gesagt, das innere die Kniescheibe und den Oberschenkel verbindende Band) geführt (Abb. 1). Dieses Band liegt innenseitig am Kniegelenk und schützt die Kniescheibe vor dem so häufigen Herausspringen nach außen. Springt die Kniescheibe aus ihrem Gleitlager heraus, spricht man von einer Luxation.
Abb. 1: Normalbefund eines knöchernen Kniescheiben-Gleitlagers. Das Gleitlager ist tief ausgebildet. Die äußere (orange) und innere (lavendel) Gelenkfläche sind symmetrisch ausgebildet, so dass der tiefste Punkt der Gleitrinne mittig liegt. Der Anstiegswinkel (blau) der äußeren Gleitlager-Gelenkfläche ist entsprechend dem steilen Anstieg der Fläche vglw. groß. Das von Kniescheiben-stabilisierende Band (grün) liegt innenseitig.
Die erstmalige Luxation ist sehr schmerzhaft, die Kniescheibe ist oft blockiert und muss gelegentlich unter Kniestreckung und Druck mit der Hand wieder in ihr Gleitlager zurückgeschoben werden. Eigene Studien haben gezeigt, dass hierbei in der überwiegenden Mehrheit der Fälle schwere Knorpelverletzungen auftreten. In über 90% der Luxationen kommt es zu einem Riss des Kniescheiben-stabilisierenden MPFL-Bandes (Abb. 2).
Abb. 2: Bei einer Kniescheibenluxation kommt es in über 90% der Fälle zu einem Riss des Kniescheiben-stabilisierenden MPFL-Bandes. Dieses wichtige Band verläuft vom innenseitigen Rand der Kniescheibe zu der Innenseite des Oberschenkelknochens.
Das Kniescheiben-stabilisierende MPFL-Band verläuft vom innenseitigen Rand der Kniescheibe zu der Innenseite des Oberschenkelknochens. Anatomische und biomechanische Studien zeigen, dass das MPFL-Band die wichtigste Bandstruktur zur Stabilisierung der Kniescheibe in strecknahen Kniepositionen (bis 30° Beugung) darstellt. Ist es gerissen, so kommt es häufig zu wiederkehrenden Luxationen der Kniescheibe. Mit den wiederholten Luxationen wird das MPFL-Band fortlaufend geschädigt, so dass die Kniescheiben-stabilisierende Funktion vollständig verloren geht. Man spricht von einer Insuffizienz des MPFL-Bandes. Eine Ausheilung ist in solchen Fällen nicht mehr möglich. Somit entsteht eine chronische Instabilität, auch habituellen Luxation genannt.
In vielen Fällen mit einer chronischen Instabilität der Kniescheibe findet sich bei den Patienten zusätzlich eine knöcherne Fehlbildung des Gleitlagers der Kniescheibe, der sog. Trochleadysplasie. Normalerweise ist die Gleitrinne ausreichend tief geformt, so dass sie auch in strecknahen Positionen und bei Drehbewegungen die Kniescheibe effektiv stabil hält (Abb. 3). Bei einer Fehlbildung des Gleitlagers, der Trochleadysplasie, ist die Gleitrinne, die die Kniescheibe führen soll, abgeflacht und bei höheren Dysplasien nicht mehr vorhanden. Die Äußere der beiden Gelenkflächen, die normalerweise nach innen abfällt und in der Mitte eine Gleitrinne bildet, ist flach oder sogar konvex geformt (Abb. 3). Damit erniedrigt sich die Steigung der aüßeren Gleitrinne, so dass die stabilisierende Funktion dieser Gelenkfläche ausbleibt. Bei höhergradigen Dysplasien ist der Winkel der äußeren Gelenkfläche sogar negativ, so dass es sich vielmehr um eine knöcherne “Rutsche“ als um ein stabilisierendes knöchernes Widerlager handelt. Aus diesem Grund gilt die Trochleadysplasie neben einer Bandinsuffizienz als ein weiterer wesentlicher prädisponierender Faktor für eine Instabilität der Kniescheibe.
Abb. 3: Verschiedene Grade einer knöchernen Formstörung. Bei den Dyplasiegraden A und B erniedrigt sich die Steigung der äußeren Gleitrinne, so dass die stabilisierende Funktion des äußeren Gleitlagers verloren geht. Bei den schweren Dysplasien ist der Winkel der äußeren Gelenkfläche (blau eingezeichnet) sogar negativ, so dass es sich vielmehr um eine knöcherne “Rutsche“ als um ein stabilisierendes knöchernes Widerlager handelt. Das Abrutschen der Kniescheibe ist anhand roter Pfeile eingezeichnet, das von innen Kniescheiben-stabilisierende MPFL-Band ist grün gezeichnet.
Der Patient mit einer instabilen Kniescheibe
Von den Betroffenen einer Kniescheiben-instabilität wird die Kniescheibe oft als “springend, “Pudding-ähnlich“, usw. beschrieben. Bei einem Teil der Patienten kommt es mehrmals täglich, bei anderen eher selten zu einem meist schmerzhaften Herausspringen der Kniescheibe. Neben der ständigen Sorge um eine Luxation und dem damit verbundenen plötzlichen Wegsacken des Beines, mitunter auch mit Sturzereignissen, bestehen sowohl belastungsabhängig als auch in Ruhe Schmerzen sowie Reizzustände im betroffenen Knie. Sport, insbesondere Ballsportarten, sind kaum mehr möglich; auch der Alltag ist eingeschränkt. Im Verlauf entwickeln sich zunehmende Knorpelschäden und schließlich bereits in vglw. jungen Jahren das Vollbild einer Arthrose (Gelenkverschleiß). Insbesondere in den leider recht häufigen Fällen, in denen das knöcherne Gleitlager der Kniescheibe zusätzlich ungünstig bzw. dysplastisch geformt ist, geht auch das klinische Bild von anfänglichen Instabilitätsbeschwerden zunehmend in das Bild einer Arthrose über. Entscheidet sich der Patient für eine konservative Therapie, so kann das Belassen der Bandinsuffizienz und vor allem die ausbleibende knöcherne Korrektur der Trochleadysplasie im Laufe von wenigen Jahren äußerst schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.
Die psychische Belastung durch eine Instabilität der Kniescheibe kann in Einzelfällen recht ausgeprägt sein. Wegen der häufig verschwommenen klinischen Symptomatik, der teilweise mangelhaften Durchdringung adäquater Untersuchungstechniken (siehe unten), und der gelegentlichen fehlerhaften Auswertung von Röntgen- und MRT-Bildern (siehe unten) wird bei vielen Patienten die psychisch belastete Situation in den Vordergrund gerückt bzw. als ursächlich angesehen. Wichtig für eine adäquate Einordung der psychischen Problematik ist, dass es sich keineswegs um ein subjektives Instabilitätsgefühl, sondern um eine bildgebend und klinisch sicher verifizierbare Instabilität handelt. “Ein mangelndes Vertrauen in das Knie“ ist somit kein Ausdruck von psychischen Problemen, sondern Folge der zugrundliegenden Pathologie.
Wann welche Therapie?: Nicht-operative Therapie und unterschiedliche operative Verfahren
Ob und wann eine Instabilität der Kniescheibe operiert werden sollte ist von bestimmten Risikofaktoren abhängig. Liegt beispielsweise ein echter Unfall, z.B. mit einer direkten Gewalteinwirkung auf die Kniescheibe vor, ist das Kniescheibengleitlager regelrecht geformt und sind die Freizeitaktivitäten des Patienten mit eher wenig Stop-and-Go sowie Drehbewegungen verbunden, so sind die Chancen einer stabilen Ausheilung unter Einhaltung eines individuell angepassten konservativen Behandlungsschemas auch ohne einem stabilisierenden Eingriff hoch.
Handelt es sich ausschließlich um eine Insuffizienz des Kniescheiben-stabilisierenden MPFL-Bandes (Verlust der stabilisierenden Funktion), so bevorzugen wir die von uns entwickelte und in Studien nachuntersuchte Technik einer vollständig Implantat-freien, anatomischen MPFL-Rekonstruktion (auch MPFL-Plastik genannt). Das Besondere an diesem Verfahren ist, dass wir mit dieser Technik die Spannung des hierbei eingebrachten Sehnenimplantates individuell und zuverlässig einstellen können. Dies schützt uns nicht nur vor den wesentlichen Komplikationen einer solchen MPFL-Rekonstruktion, auch optimiert diese Methode das Operationsergebnis (siehe MPFL-Bandrekonstruktion).
Beim gleichzeitigen Vorliegen einer höhergradigen knöchernen Formstörung des Gleitlagers (Trochleadysplasie) ist eine isolierte MPFL-Rekonstruktion kritisch zu sehen. Zwar hält man den Eingriff vglw. “klein”, die Ergebnisse sind aber enttäuschend. So belegen ausreichend Studien, dass eine isolierte Wiederanheftung oder Rekonstruktion des MPFL-Bandes bei Vorliegen einer höhergradigen Trochleadysplasie ein schlechtes klinisches Ergebnis sowie ein nahezu 50-prozentiges Risiko für eine wiederkehrende Instabilität mit erneuten Luxationsereignissen nach sich zieht. Aber auch ohne wiederkehrende Luxationsereignisse sind nicht-, oder auch adäquat operierte Patienten unzufrieden. So zeigt eine Metaanalyse zur isolierten MPFL-Rekonstruktion mit über 25 Studien, bei 32% der Patienten anhaltende Instabilitätsbeschwerden mit anhaltenden Schmerzen, ein anhaltendes Vermeidungsverhalten mit Sportunfähigkeit, weiterhin positive klinische Untersuchungstests für eine Instabilität, etc. Gerade das anhaltende oder gar zunehmende Schmerzbild ist nicht verwunderlich, da die Stabilisierung der Kniescheibe bei Vorliegen einer knöchernen Trochleadysplasie häufig mit einer Überspannung des MPFL-Sehnenimplantates “erkauft“ werden muss. Daneben ist auch an die Gefahr fortschreitender degenerativer Gelenkschäden zu denken. So ist aus diversen Untersuchungen bekannt, dass die Trochleadysplasien als Hauptursache von Arthrosen, die prothesenpflichtig werden (Gelenkersatz hinter der Kniescheibe), anzusehen sind. So finden sich bei den meisten Patienten, die für eine Prothese hinter der Kniescheibe (Gleitlager- und ggf. Patellarückflächenersatz) zu uns kommen, Trochleadysplasien.
Dem gegenüber stehen die unzweideutig guten Ergebnisse, insbesondere für den Kombinationseingriff einer MPFL-Rekonstruktion zusammen mit einer operativen Korrektur der knöchernen Formstörung (Trochleadysplasie), der sog. Trochleaplastik, gegenüber. Für diesen kombinierten Eingriff finden sich in eigenen Studien und in der Literatur 0% Reluxationsraten, im Prinzip durchweg negative klinische Untersuchungsbefunde für eine Instabilität, und nahezu normalisierte klinische Ergebnis-Scores mit fast 100%-igen Return-to-Sports Raten. Die guten Ergebnisse für die Kombination einer Trochleaplastik und einer MPFL-Rekonstruktion sind unseres Erachtens nicht erstaunlich. So kommt es durch eine effektiv durchgeführte knöcherne Gleitlagerkorrektur zu einer Normalisierung und damit zu einer Verlagerung des Gleitweges der Kniescheibe nach innen. Somit erscheint die MPFL-Rekonstruktion nicht nur zur weichteiligen Reparatur des gerissenen bzw. insuffizienten MPFL-Bandes, sondern auch in Folge der knöchern korrigierten Position der Kniescheibe erforderlich. Letztlich führt die gewünschte, nach innen verlagerte, Position der Kniescheibe zu einer Erschlaffung der MPFL-Bandstrukturen, die eine Neueinstellung bzw. Balancierung des MPFL-Bandapparates erfordert (Abb. 4).
Abb. 4: Die effektiv durchgeführte knöcherne Gleitlagerkorrektur führt zu einer Normalisierung und damit zu einer Vertiefung (grüner Pfeil) und Verlagerung des Gleitweges der Kniescheibe nach innen (blauer Pfeil). Die verlagerte Position der Kniescheibe führt zu einer Erschlaffung der MPFL-Bandstrukturen. Dies macht eine Neueinstellung des Kniescheiben-stabilisierenden MPFL-Bandes erforderlich. Somit ist die MPFL-Rekonstruktion nicht nur zur weichteiligen Reparatur des gerissenen bzw. insuffizienten Bandes, sondern auch in Folge der knöchern korrigierten Position der Kniescheibe erforderlich. Ähnlich verhält es sich bei etwas seltener notwendigen Korrekturen der Rotation und Achse des Kniegelenkes.
Neben den Schäden des MPFL-Bandapparates und der knöchernen Formstörung des Gleitlagers (Trochleadysplasie) sind aber auch weitere anlagebedingte, oft auch gemeinsam auftretende, seltenere Störungen der knöchernen Anlage bei der Entstehung einer chronischen Instabilität zu beachten und ggf. zu adressieren. Hier sind insbesondere Achs- und Rotationsfehler des Kniegelenkes von Bedeutung. Hinsichtlich relevanter Achs- und Rotationsfehler ist hier insbesondere der sog. femorale Antetorsionswinkel (physiologische Verdrehung des Oberschenkelhalses gegenüber dem Oberschenkel und Kniegelenk nach vorne; Norm: bis ca. 20°) von praktischem Interesse (Abb. 5). Für diese Messungen führen wir zur Reduktion der Strahlenbelastung gerne ein sog. Rotations-MRT (MRT (Magnetresonanztomographie) des gesamten Beines) durch. In diesen Fällen mit einem erhöhten Antetorsionswinkel ist bspw. eine Knochendurchtrennung mit dem Ziel, den Drehfehler zurückzudrehen, eine sog. derotierende Osteotomie, wiederum in Kombination mit einer MPFL-Rekonstruktion ein sinnvolles und mittlerweile auch nachgewiesen erfolgreiches Verfahren.
Abb. 5: Oberer Teil: Querschnitt durch den Oberschenkelhals mit Kopf rechtsseitig. Unterer Teil: Querschnitt durch das Kniegelenk auf Höhe der Kniescheibe und des Kniegelenkes. Der Antetorsionswinkel des Kniegelenkes wird zwischen der Achse durch den Oberschenkelhals (rot) und der Tangente der Hinterkante der Kniekondylen (blau) gemessen (grüner Winkel, die Norm liegt <20°). Ist die Antetorsion vergrößert, sollte neben einer MPFL-Rekonstruktion eine Korrektur der Oberschenkeldrehung in Form einer sog. derotierenden Osteotomie angeboten werden.
Ebenso kann eine fehlerhafte Beinachse bei Vorliegen eines X-Beines prädisponierend für eine Instabilität der Kniescheibe sein. Die mechanische Beinachse ist dabei die Verbindung zwischen dem Hüftkopfzentrum und dem Zentrum des oberen Sprunggelenkes. Läuft diese Achse mittig durch das Kniegelenk ist diese regelrecht, auch orthograd genannt. Bei einem X-Bein liegt diese Achse außen von der Kniegelenksmitte (Abb. 6). Hier ist eine Korrektur der Beinachse ein sinnvolles Verfahren, wobei wir im Rahmen einer Instabilität diesen Eingriff mit einer MPFL-Rekonstruktion kombinieren (Abb. 7).
Abb. 6 (außen links): Die Verbindungslinie zwischen dem Hüftkopfzentrum und dem Zentrum im oberen Sprunggelenk beschreibt die Beinachse. Bei einem X-Bein liegt die Beinachse nicht mittig im Kniegelenk, sondern weit nach außen verlagert (rote Linie).
Abb. 7 (Mitte und außen rechts): Die Beinachse wird zwischen dem Hüftkopfzentrum und dem der Mitte des oberen Sprunggelenkes gemessen. Bei diesem X-Bein liegt die Beinachse nicht mittig im Knie, sondern nach außen verlagert (rote Linie). Die gelben Linien dienen der Planung der Korrektur, in der Mitte ist die intraoperative Umsetzung geplant. Rechts ist das postoperative Ergebnis mit der entsprechenden Achskorrektur (rote Linie) zu sehen. Bei einer Kniescheibeninstabilität kombinieren wir diesen Eingriff mit einer MPFL-Rekonstruktion.
Vergleichsweise selten kann auch eine vermehrte Verdrehung des Unterschenkels, die sog. Tibiatorsion, den Verlauf der Kniescheibe nach außen verlagern und somit zu einer Instabilität führen. Die Unterschenkeldrehung wird im klinischen Alltag als Winkel zwischen den beiden längsten Linien durch das Plateau des Kniegelenkes, dem sog. Tibiaplateau, auf Höhe des Wadenbeinköpfchens sowie auf Höhe des Sprunggelenk-nahen Schienbeinknochens, dem sog. Pilon tibiale, gemessen. Die Norm liegt bei weniger als 40° (Abb. 8).
Abb. 8: Rotations-CT des Unterschenkels zur Beurteilung einer ggf. die Instabilität mitverursachenden fehlerhaften Tibiatorsion.
Ein weiterer zu beachtender und häufig assoziiert auftretender Faktor ist ein möglicher Hochstand der Kniescheibe, der bspw. anhand des sog. Insall-Salvati-Index (Norm 0,8-1,2) beschrieben werden kann (Abb. 9).
Abb. 9: Insall-Salvati-Index zur Berechnung der Höhe der Kniescheibe. Dieser ergibt sich aus dem Verhältnis der Kniescheibensehenlänge (S) und der Kniescheibenlänge (P). Ein Hochstand liegt vor, bei einem Wert über oder gleich 1,2.
Ein weiterer zu beachtender Aspekt ist der Abstand zwischen dem Ansatz des Kniescheibenbandes am Unterschenkel, der sog. Tuberositas tibiae, und dem tiefsten Punkt des Kniescheibengleitlagers, der Trochleagrube. Der Abstand zwischen der Tuberositas tibiae (TT) und der Trochleagrube (TG) wird als Tuberositas tibae-Trochleagruben-Distanz (TT-TG) bezeichnet. Die Norm liegt bei Werten unter 20 mm (Abb. 10).
Abb. 10: Der Abstand zwischen dem Ansatz des Kniescheibenbandes am Unterschenkel, der Tuberositas tibiae (gelber Punkt innerhalb der blauen Line), und dem tiefsten Punkt des Kniescheibengleitlagers, der Trochleagrube (gelber Punkt innerhalb der roten Linie) wird als Tuberositas tibae-Trochleagruben-Distanz (TT-TG, Norm <20 mm) bezeichnet.
Bezüglich eines erweiterten TT-TG, der teilweise mit einer Trochleadysplasie assoziiert auftritt, sollte angemerkt werden, dass dieser Befund im Rahmen einer Trochleaplastik mit einer ein wenig vermehrt nach außen verschoben durchgeführten Korrektur der ohnehin asymmetrischen Gleitlagerflächen vglw. sicher adressiert und damit korrigiert werden kann. Dieser Aspekt sollte uns bei der Entscheidung einer evtl. zusätzlich sinnvoll erscheinenden Tuberositasosteotomie (Ablösung des Sehnenansatzes und Versetzung desselben nach innen) bewusst sein.
Was sollten wir bei der körperlichen Untersuchung beachten?
Klinisch führen wir nach den ersten orientierenden Untersuchungen v.a. spezifische Funktionstests in verschiedenen Beugegraden des Kniegelenkes durch. Diese Untersuchungsschritte sind wesentlich, um die Indikation zu einer konservativen Therapie, einer isolierten MPFL-Rekonstruktion, oder aber auch einer kombinierten Trochleaplastik und MPFL-Rekonstruktion zu sichern. Zunächst beginnen wir die Untersuchung mit ersten orientierenden Befunden. Bittet man den Patienten um ein Austrecken des hängenden Beines, gewinnt man einen ersten Eindruck zum Gleiten der Kniescheibe. Gleitet die Kniescheibe kurz vor dem Erreichen der vollen Streckung ähnlich zu einem umgedrehten “J“ von der normalerweise geraden Strecke nach Außen ab, so gilt das sog. J-Zeichen als positiv.
Diesem orientierenden, vglw. unspezifischen Zeichen sollten genauere Stabilitätsprüfungen folgen. So lässt sich der Einfluss einer Instabilität der MPFL-Bandstrukturen sowie der Trochleadysplasie durch eine passive Verschiebung der Knieschiebe nach außen in verschiedenen Beugegraden am locker hängenden Bein gut überprüfen. Die Kniescheibe sollte bei dieser Untersuchung zwischen 20° und 30° Beugung nicht mehr als die Hälfte ihrer Breite nach außen verschiebbar sein.
Ab ca. 30° bis 45° Beugung übernimmt zunehmend das knöcherne Gleitlager die Funktion der Stabilisierung der Kniescheibe. Liegt also neben einem insuffizienten MPFL eine Trochleadysplasie vor, so ist die Verschieblichkeit nach außen nicht nur in strecknahen Positionen, sondern auch bei leicht vermehrten Beugegraden zwischen 30° und 60° erhöht (Abb. 11).
Abb. 11: Zwischen 0° und 30° Beugung wird die Stabilisierung der Kniescheibe zum überwiegenden Anteil durch das MPFL-Band gewährleistet. Ab 30° übernimmt zunehmend das knöcherne Gleitlager die Funktion der Stabilisierung der Kniescheibe. Liegt also neben einem insuffizienten MPFL-Bandapparat einen Störung des knöchernen Gleitlagers vor, so ist die Verschieblichkeit nach außen nicht nur in strecknahen Positionen bis 30°, sondern auch bei vermehrten Beugegraden zwischen 30° und 60° erhöht.
Weitere Untersuchungsmethoden beruhen auf einer Abwehrreaktion des Patienten, die durch die Provokation eines Weggleitens der Kniescheibe ausgelöst werden. Diese Tests haben in unserem klinischen Alltag einen hohen Nutzen und werden als sog. Apprehensiontests bezeichnet. Dabei können diese Apprehensiontests wiederum bei der Unterscheidung zwischen einer rein weichteiligen Instabilität (MPFL-Bandinsuffizienz) und einer knöchernen Instabilität der Knieschiebe (Trochleadysplasie) helfen. Bewegt man das Knie von der Streckung in eine Beugung von maximal 30°, und zeigt der Patient unter leichter Verschiebung der Kniescheibe nach außen eine Abwehrreaktion, so gilt der Test als positiv. Die Abwehrreaktion kann bspw. in der Mimik, v.a. aber in einer vermehrten Muskelspannung des Beines oder gar einen Griff zum Knie ersichtlich sein.
Nach diesem weichteiligen Apprehensiontest in stecknahen Positionen erfolgt im nächsten Untersuchungsschritt eine Beurteilung in weiter zunehmender Beugung des Kniegelenkes. Nachdem die Stabilität der Kniescheibe zwischen 30° und 60° Beugung durch das knöcherne Gleitlager gesichert wird, wird dieser Untersuchungsschritt bei zunehmender Beugung als der knöcherne Apprehensiontest bezeichnet. Zeigt sich zwischen 30° und 60° Beugung eine Abwehrreaktion, so deutet dies auf eine zusätzliche Insuffizienz der knöchernen Führung. Der knöcherne Apprehensiontest gilt dann als positiv (Abb. 11).
Als weiteren Untersuchungsschritt mögen wir besonders den sog. “Moving Patellar Apprehensiontest“. Dieser Test lässt sich gut nach dem weichteiligen und knöchernen Apprehension Test beurteilen, da er, im Gegensatz zu den vorherigen Tests, die Abwehrreaktion in den verschiedenen Beugegraden vermindert. Hierzu wird die Kniescheibe beim Durchbewegen durch den Zeigefinger nach innen gedrückt und somit in ihrer Stabilität unterstützt. Die Testung gilt als nun positiv, wenn die zuvor beobachtete Abwehrreaktion durch die simulierte Stabilisierung der Kniescheibe abgeschwächt wird. Studien und die eigene Erfahrung zeigen, dass dieser zusätzliche Test die Aussagekraft der vorangegangenen Untersuchungsschritte nochmal erhöhen kann.
Sind die klinischen Untersuchungstests für die Weichteile (MPFL-Band) und das knöcherne Gleitlager (Trochlea) positiv, und finden sich korrespondierende MRT- oder Röntgen-Befunde einer schweren Dysplasie (Typ B bis D nach Dejour, s. Erläuterung zur Trochleaplastik), deutet dies auf die Notwendigkeit einer knöchernen Korrektur des Gleitweges der Kniescheibe (Trochleaplastik) hin.
Wichtig für die klinische Untersuchung ist zudem die Beurteilung bzw. der Ausschluss möglicher Achs- und Rotationsfehler des Kniegelenkes. Hierzu erheben wir bevorzugt Befunde am stehenden oder am auf dem Bauch liegenden Patienten.
Im Fall eines Drehfehlers des Kniegelenkes gegenüber der Hüfte (sog. vermehrte femoralen Antetorsion) zeigt sich im Stehen eine vermehrte Drehung des Kniegelenkes nach innen. In solchen Fällen ist dann auch die Kniescheibe vermehrt nach innen gerichtet, wir sprechen dann von einer sog. schielenden Patella. Wichtig für diese Beurteilung ist, dass die Füße des Patienten parallel nach vorne gerichtet sind.
Im Falle eines Achsfehlers des Beines ist für die Instabilität der Kniescheibe insbesondere das X-Bein, das sog. Valgusknie, von Bedeutung. Hier zeigt das vom Unterschenkel kommende Kniescheibenband einen vergrößerten Winkel zur Oberschenkelachse. Auch ist die Stellung des Kniegelenkes zum Hüft- und Sprunggelenk nach innen verlagert. Hierdurch sehen beide Beine zusammen wie ein angedeutetes X aus (X-Beine). Auch solche Befunde bedürfen einer weiteren bildgebenden Abklärung (Abb. 5 und Abb. 6).
In selteneren Fällen kann eine vermehrte Einwärtsdrehung des Unterschenkels den Gleitweg der Kniescheibe nach außen verlagern und auf diesem Weg eine Instabilität der Kniescheibe verursachen. Die Beurteilung der Unterschenkeldrehung erfolgt durch den Vergleich der Stellung von Sprunggelenk und Fuß in Relation zum Ansatz des Kniescheibenbandes am Unterschenkel (sog. Patellarband). Zeigt der Kniescheibenansatz des Patellarbandes, also die sog. Tuberositas tibiae, beidseits nach vorne und sind die Füße dann vermehrt nach außen gerichtet, so ist ein Drehfehler zu vermuten. Erscheint uns die Fußstellung gegenüber dem Bandansatz am Unterschenkel fehlerhaft, so klären wir solche Fälle mit bildgebenden Untersuchungen ab (Abb. 8).
Zuletzt werden mögliche Drehfehler des betroffenen Beines am auf dem Bauch liegenden Patienten untersucht. Das Knie ist hierbei auf 90° gebeugt. Bei der Messung der maximal möglichen Ein- und Auswärtsdrehung zeigt sich bei Vorliegen eines Drehfehlers der Hüfte zum Knie, der sog. Coxa antetorta, nicht selten ein augenscheinliches Ungleichgewicht. So lässt sich in solchen Fällen die Hüfte übermäßig nach außen drehen (>65°), hingegen ist die Innendrehung stark vermindert (<30°). Auch kann der Winkel zwischen dem Oberschenkel und der Fußachse etwaige Rotationsfehler aufdecken.
Zeigt sich anhand der klinischen Untersuchung ein Verdacht auf einen Dreh- oder Achsfehler des Unter- und/oder Oberschenkels, fertigen wir großzügig Röntgenbilder des ganzen Beines und ggf. ein Rotations-MRT an. Die Ganzbein-Rotations-MRT Untersuchung hat gegenüber einer entsprechenden, auch weit verbreiteten, Computertomographie den Vorteil, dass die Strahlenbelastung vollständig entfällt. Diese Bildgebung erachten wir als wichtig, weil wir nur auf diesem Wege unsere Patienten zuverlässig über die Erfolgschancen des weiten Spektrums konservativer und operativer Therapieverfahren beraten können.